Spiralkanäle von Vlado Franjević

Das Motiv der Spirale findet sich bereits in prähistorischer Zeit auf Felsbildern und Megalithbauten als auch im Alten Ägypten auf Skarabäen oder Grabmalereien. Die Spirale ist ein 


uraltes Symbol – ein Universalsymbol. In der Natur selbst ist sie präsent: in Schnecken, Muscheln, Tannenzapfen, in Fruchtständen wie etwa der Sonnenblume oder im Netz der Spinnen. Im Mikrokosmos und im Makrokosmos ist die spiralförmige Bewegung ebenso zu entdecken, sei es in DNS-Molekülen oder im Universum. Sie verbirgt sich im Sternennebel, in den Galaxien oder in der Bewegung der Sonnensysteme.Die Spirale verkörpert Bewegung, ja sie vermittelt regelrecht einen Eindruck von einem immerwährenden Fluss. Auf dem Weg nach Innen – zum Zentrum – beschleunigt sich die Bewegung, auf dem Weg nach Aussen verlangsamt sie sich. Wer der Spirale folgt, dreht sich nicht im Kreis, er gelangt vielmehr und zwangsläufig in die Mitte. Der Weg ist dabei linear und kreuzungsfrei. Im Zentrum angelangt, befindet man sich an einem stillstehenden Umkehrpunkt: Hier muss der Besucher seine Gehrichtung ändern, denn er erreicht die Aussenwelt nur, wenn er sich umwendet und den Eingangsweg zum Ausgangsweg werden lässt. Das heisst, der Weg bietet keine Wahlmöglichkeit und doch ist er offen. Der Weg ist zielgerichtet und zugleich rhythmisiert und dynamisch. Der Weg verkörpert Entwicklung und Wachstum, Sammlung und Zentrierung.

 

Vlado Franjević lädt ein, die tiefe, archaische Symbolik und Kraft der Spirale zu erleben. Seit 2004 realisiert Franjević Spiralkanäle an ausgewählten Orten in der Natur. Er gräbt sie an- oder absteigend in die Erde hinein, so dass die Spirale sich nicht nur ausdehnt bzw. zusammenzieht, sondern sich darüber hinaus zunehmend vertieft bzw. erhöht. Liegt im Mittelpunkt der Spirale ein Gegenimpuls, so erzeugt Franjević dadurch im Raum einen weiteren Kontrapunkt: Einfache dünne Hölzer, entnommen der umgebenden Natur und verbunden über ein einfaches Band, folgen in der Höhe, im Luftraum, dem Verlauf der sich in die Erde einschreibenden Spirale. Am flachsten Punkt sind die Stecken am Höchsten und am tiefsten sind sie am Niedrigsten. Es entsteht ein konischer Gegenlauf: So wie unten, so auch oben, und zugleich wird die Bewegungsfigur des Besuchers durch die weitere Begrenzung des Weges beim Beschreiten noch mehr konzentriert.

 

Begleitet wird diese Aktion in der Natur durch eine kommunikative Interaktion mit Kollegen, mit Interessierten, mit Personen aus aller Welt. Sie sind eingeladen, Beiträge zu senden, sei es ein Gedicht, ein Bild, eine Zeichnung, eine Notiz, eine Geste: ein Austausch beginnt, eine Ansammlung und Aufladung um den Ort. Diese Beiträge sind Teil des Spiralkanalprojekts. Spontan und wie es die Situation erlaubt, werden sie vorgetragen oder vorgestellt. Zudem helfen Teilnehmer bei der Ausgrabung der bewegten Form. In diesem menschlichen Miteinander entsteht ein offener Ritus, der den Symbolgehalt der Aktion, die Heilung der Erde, verdichtet. Im Beschreiten und Eintauchen der Urform kann man den Wechsel von Innenwelt zur Aussenwelt und von der Aussenwelt zur Innenwelt nachvollziehen: Einkehr folgt Handlung, Handlung folgt Einkehr. Immer wieder wird die Spirale als Motiv für Wachstum, Erweiterung und kosmische Energie, als Symbol der Schöpfung gedeutet. Vlado Franjević’ Ritual der Spiralkanäle versinnbildlicht die Eingebundenheit des Menschen in die universalen Prozesse.

 

Christiane Meyer-Stoll ist Kuratorin des Kunstmuseum Liechtenstein


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